Toiletten für alle – wirklich alle?

Den Anspruch auf „Toiletten für Alle“ bzw. den, solche zu etablieren, erheben auch andere. Unter der Bezeichnung „Toilette für Alle“ setzt sich die Stiftung Leben pur „dafür ein, dass es bundesweit an allen öffentlichen Orten “Toiletten für alle” gibt.“ Alle bezieht dabei in erster Linie Menschen mit schweren und mehrfachen Behinderungen ein. Das Land Baden-Württemberg schreibt auf seiner Projekt-Homepage auf die Frage was „Toiletten für alle“ seien: „Darunter versteht man ein Rollstuhl-WC mit zusätzlicher Pflegeliege für Erwachsene, einem Patientenlifter, Windeleimer und ganz viel Bewegungsfläche.“ Das zuständige baden-württembergische Ministerium für Arbeit und Sozialordnung, Familie, Frauen und Senioren förderte 2015 mit insgesamt bis zu 300.000€ die „Ausstattung eines geeigneten Raumes zur „Toilette für Alle“.“ Förderungsfähig waren dabei

  • (Höhenverstellbare) Bank / Liege (mit Sicherheitsgitter),
  • Lifter, elektrischer Lifter mit Radius 2,5m (Befestigung an Decke oder Wand),
  • Notruf,
  • Windeleimer

Schilder, die vorhandene Toiletten zu all-gender-WCs erklären, sind demnach nicht förderungsfähig und der Anspruch „für alle“ wird verfehlt. – Die Einrichtung barriereabbauender Sanitäranlagen ist dringend notwendig! Die Kritik richtet sich nicht gegen entsprechende Bemühungen. Interessanter Weise werden die „Toiletten für alle“ scheinbar selbstverständlich nicht mehrfach angelegt, um eine Geschlechtertrennung unter den Nutzer*innen zu ermöglichen. Warum ist eine Trennung bei nicht schwer und/oder mehrfach behinderten Menschen notwendig?

Toiletten für alle – ein Factsheet

Warum jetzt?

Anlass für diesen Anti-Terroranschlag des Asozialen Netzwerks sind die deutschen Antidiskriminierungstage die am 2. und 3. Dezember 2019 unter dem Motto „was divers macht“ in Berlin stattfinden.

Unsere Aktion reiht sich ein in und ist solidarisch mit anderen Aktionen, die Vielfalt erfahrbar machen und über genderassoziierte Diskriminierung aufklären.

Warum all-gender-WCs?

Die Gründe für all-gender-WCs sind vielfältig:

Es gibt mehr als zwei Geschlechter – deshalb sind die bestehenden Zugangsregelungen zu den Toiletten unzureichend und diskriminieren Menschen, die sich in dem vorherrschenden binären Geschlechtersystem nicht wiederfinden.

Dass, die Natur mehr als „männlich“ und „weiblich“ kennt, hat auch Eingang in die Musikwelt gefunden. So besingt Sookee in ihrem Lied „Queere Tiere“ Intersexualität im Tierreich, u.a. Schnecken, die ihr Geschlecht wechseln.

Laut der US Transgender Umfrage aus dem Jahr 2015

  • wurde knapp einem von zehn (9%) der an der Umfrage teilnehmenden Menschen im vergangenen Jahr der Zugang zur Toilette verwehrt.
  • Wurden in den zurückliegenden zehn Jahren während des Aufenthalts in Toiletten 12% der Befragten verbal und 1% physisch attackiert. In 1% der Fälle kam es zu sexueller Übergriffigkeit.
  • Über die Hälfte aller Befragten (59%) gab an, öffentliche Toiletten zu meiden, um etwaigen Konfrontationen oder unangenehmen Erfahrungen mit Mitnutzer*innen aus dem Weg zu gehen.
  • Knapp ein Drittel (32%) der Befragten, gab an, bewusst weniger zu essen und zu trinken, um nicht in die Verlegenheit zu kommen, eine öffentliche Toilette aufsuchen zu müssen.
  • Acht Prozent der Befragten gab an, im vergangenem Jahr Harnwegsinfekte, Nierenbeckeninfekte, oder andere Niereprobleme erlitten zu haben, die auf die Vermeidung von Toilettengängen zurückzuführen seien.[1; S. 15]

Mehr Gerechtigkeit – die Zahl der netto zur Verfügung stehenden „Frauen“-Toiletten in öffentlichen Einrichtungen ist geringer als die für „Männer“. Das liegt daran, dass der in der Bauplanung für Toiletten berücksichtigte Platz gleichmäßig auf die „Männer“- und „Frauen“-Toiletten aufgeteilt wird – ohne Berücksichtigung dessen, dass Urinale weniger Platz einnehmen und so die Zahl der Pinkelplätze ungleich zu Ungunsten der Nutzer*innen von „Frauen“-Toiletten ausfällt. Die Idee von „Potty Parity“ greift das Problem auf.1

Gleichzeitig verbringen Nutzer*innen von „Frauen“-Toiletten mehr Zeit in eben diesen. Das liegt an der im Vergleich zu Urinalen aufwändigeren Nutzung (Tür auf, Tür zu etc.) und weiteren Bedürfnissen wie z.B. dem Wechsel von Hygieneartikeln.[2]

Gelebte Inklusion – aus der Frauenbewegung wissen wir, dass sich – auch unbeabsichtigte – Unterdrückung in der Sprache manifestieren. Im Bezug auf die Toilettennutzung müssen wir anerkennen, dass sich Unterdrückungsmuster auch in unserem Verhalten manifestieren. Durch die bewusste Auflösung der Kategorien „weiblich“, „männlich“ können wir Inklusion leben und in den unbewussten Alltag überführen.

Praktische Gründe – jede*r nutzt die Toilette, die von ihrem*seinem Standpunkt gerade am nächsten und frei ist.

Der Guardian berichtet in Berufung auf die BBC über schwindende Anzahlen öffentlicher Toiletten in Großbritannien. Im Hinblick auf funktionsfähige Toiletten brauchen wir aber gar nicht auf Zahlen aus dem Vereinigten Königreich schielen, sondern brauchen nur ins Gebäude J2 gucken. Lest dazu auch die Stellungnahme des AStA aus dem Vorjahr.

Jede*r, die während einer Klausur oder nur der 15-minütigen Pause zwischen zwei Vorlesungen zur Toilette musste, wird den Vorteil der aus der Nutzung freier Toiletten unabhängig von dem zugeschriebenem Geschlecht anerkennen.

Medizinisch-Präventive In der Absicht, unangenehme Situationen bei dem Gang zur Toilette zu vermeiden, kommt es zu gesundheitsschädlichem Verhalten [3], z.B. durch bewusste Hypohydratation. Unverhältnismäßig langes Anhalten des Harns begünstigt vermeidbare Harnwegsinfekte.[1; S. 15]

Für die Menschen, die davon betroffen sind – häufig solche, die sich in dem binären Geschlechtersystem nicht wiederfinden und als trans* bezeichnet werden – ist aus den gleichen Gründen der Gang zur Ärztin/zum Arzt und damit zur Behandlung von etwaigen Gesundheitsschäden erschwert.

Durch all-gender-WCs wird der Weg zur Toilette für alle erleichtert und die Bedeutung der Kategorien „männlich“, „weiblich“ aufgeweicht, was zu einem sensibleren Umgang mit non-binären Menschen in der medizinischen Praxis beitragen kann.

Viele Probleme, eine Lösung

Dabei lassen sich die genannten Probleme leicht umgehen: unbewusst nutzen wir schon an vielen Orten Toiletten, die unisex sind, auch wenn sie nicht so beschildert sind. Denken wir etwa an Toiletten in Zügen oder Flugzeugen, an Toiletten in kleineren Gebäuden, wo gar kein Platz für mehrere Toiletten ist und nicht zuletzt an Toiletten in Privathäusern.

Das lässt sich auch in öffentlichen Gebäuden umsetzen!

Diese Maßnahme ist ein Baustein auf dem Weg zu einer inklusiveren und diskriminierungsfreieren MHH.

Wer profitiert?

Wir alle! – Mit der geänderten Beschilderung wird niemandem eine Toilette „weggenommen“, denn die umgewidmeten Toiletten sind fortan für mehr Menschen nutzbar als vorher.

In den nicht von Studierenden genutzten Institutsgebäuden und im Bereich der Klinik, besteht die Trennung in Frauen- und Männer-Toiletten fort.

Ist die MHH die einzige Einrichtung mit all-gender-WCs?

Nein, u.a. die Europauniverstität, die Universitäten Göttingen, Lüneburg, Bremen, die Hochschule Hildesheim-Holzminden-Göttingen, die Universität Bielefeld und die TU Dortmund verfügen über all-gender-WCs.

Gibt es in Hannover bereits all-gender-WCs?

Ja, von den vielen WG-Klos und denen in privat Haushalten abgesehen, listet die Seite Refuge Restrooms drei Orte in Hannover, an denen bereits all-gender-WCs bestehen, darunter das Otto Hahn Gymnasium in Springe.

Wir hoffen aber auf eine hohe Dunkelziffer nicht gelisteter Einrichtungen und rufen gleichzeitig dazu auf, die Datenbank entsprechend zu ergänzen.

Wie steht die Landesregierung zu all-gender-WCs?

Antwort der Landesregierung auf eine mündliche Anfrage: Welche Vorteile bieten „Unisex-Toiletten“:

Aus Sicht der Landesregierung ist es wünschenswert, im öffentlichen Raum Lösungen zu finden, um die in den Vorbemerkungen beschriebene Diskriminierung zu vermeiden (z.B. durch die Schaffung und entsprechende Kennzeichnung von Unisex-Toiletten). Dies gilt insbesondere für öffentliche Toiletten bzw. Toiletten in öffentlichen Einrichtungen, bei Veranstaltungen, im Sport u.a.m. Die Landesregierung begrüßt es, wenn bei öffentlichen Um- und/oder Neubauten dieser Herausforderung Rechnung getragen würde.“

Ich finde das gut/blöd. An wen kann ich mich wenden?

An toiletten-fuer-alle[at]riseup.net den PGP Schlüssel findest du hier.

References

[1] (2016). The Report of the U.S. Transgender Survey.

[2] University, G. (2017). No more queueing at the ladies’ room: How transgender-friendliness may help in battling female-unfriendly toilet culture., ScienceDaily .

[3] Herman, J. L. (2013). Gendered Restrooms and Minority Stress: The Public Regulation of Gender and its Impact on Transgender People’s Lives.

1Wobei das Konzept von „potty pariety“ nach wie vor an den binären Kategorien von „Frauen“ und „Männern“ festhält und somit nur einen Teil des Problems zu adressieren vermag.

Ein Anti-Terroranschlag des Asozialen Netzwerks